Tinnitus-Beschwerde – Unfall oder Krankheit?
Tinnitus-Beschwerde – Unfall oder Krankheit?
- Hat auch mit Ihnen schon einmal jemand über seine Tinnitus-Beschwerden gesprochen? In den gängigen Recherche-Tools und Foren berichten Ärzte und Nicht-Ärzte über einen Anteil von ca. 4% aller Erwachsenen, die seit mehr als 3 Monaten unter Geräuschen leiden, die sie ungewollt begleiten. Die Auswirkungen der Störung reichen offenbar von leicht lästig bis zu invalidisierend.
- Die schwereren Verläufe verursachen Therapiekosten (Arztbesuche) und gegebenenfalls Arbeitsausfälle. Arbeitet eine Person in der Schweiz in einem Anstellungsverhältnis während mehr als 8 Stunden pro Woche, so ist sie durch den Arbeitgeber obligatorisch gegen Unfälle zu versichern. Ein spezielles Gesetz regelt, was als Unfall gilt und welche Folgen durch die Versicherer zu vergüten sind. Die Versicherungsleistungen gemäss diesem Unfallversicherungsgesetz (abgekürzt UVG) sind im Schweizer System bekanntermassen deutlich grosszügiger ausgestaltet als im Krankheitsfall.
- Ob Tinnitus-Beschwerden als unfall- oder als krankheitsbedingt beurteilt werden, kann aus diesem Grund zu massiven Unterschieden in den Versicherungsleistungen führen und folglich zu Streitfällen zwischen Versicherten und Versicherern.
- Auf den ersten Blick erscheint uns diese Unterscheidung nicht schwierig: War eine Person, die zuvor ohne Beschwerden war, einem lauten Ereignis ausgesetzt und nimmt diese Person danach Symptome wahr, wie z.B. Piepsen, Zischen, Rauschen, Pfeifen, Summen und dergleichen, so wird es sich doch wohl um Unfallfolgen handeln, die entsprechend zu entschädigen sind. Oder etwa nicht?
- Nun, das folgende Geschehen führte später zum Gerichtsfall: Ein grosses Riffelblech, das zuvor aufrecht stand, kippte und schlug auf einer Metallrampe auf. Ein Mann, der sich in unmittelbarer Nähe befand, erlitt ein sogenanntes Knalltrauma. Wegen Tinnitus-Beschwerden suchte er in der Folge Ärzte auf und machte Versicherungsleistungen geltend.
Erste Frage: Handelte es sich beim Vorgang um einen Unfall gemäss UVG? Antwort: Ja.
Zweite Frage: Erhielt der Verunfallte Leistungen der Unfallversicherung? Antwort: Zu Beginn zwar schon. Nach Abklärung der gesundheitlichen Verhältnisse lehnte die Versicherung ihre Leistungspflicht ab.
Dritte Frage: Korrigierte das Gericht aufgrund der Beschwerde des Verunfallten den Entscheid der Unfallversicherung? Antwort: Nein. Aus den nachfolgend genannten Gründen:
- Bei der weitaus häufigsten Form von Tinnitus werden die Geräusche einzig durch die betroffene Person wahrgenommen. Die behandelnden Ärzte können dann weder eine pathologisch-anatomische, also eine körperliche Veränderung feststellen, noch ist es möglich, mit technischen Hilfsmitteln die von den Patienten beschriebenen Ohrgeräusche messbar zu machen. Die medizinische Lehrmeinung gelangt deswegen zur Auffassung, es gäbe keine verlässlichen Rückschlüsse, dass ein Tinnitus eine organische Folge eines Unfalls sei.
- Das Bundesgericht hatte in einem früheren Fall entschieden, dass aufgrund dieser medizinischen Ausgangslage nicht ohne weiteres angenommen werden könne, ein Tinnitus sei ein körperliches Leiden. Nur falls eine besondere Prüfung im Einzelfall den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und den Tinnitus-Symptomen zeige, seien Versicherungsleistungen durch die obligatorische Unfallversicherung gerechtfertigt.
- Die besondere Prüfung besteht darin, das Unfallgeschehen und die von den Patienten geschilderten Folgen anhand derselben unfallbezogenen Kriterien zu beurteilen, wie sie durch die Gerichte für die Beurteilung von psychischen Fehlentwicklungen nach einem Unfall angewendet werden.
- Den Tinnitus mit einer psychischen Fehlentwicklung, respektive mit einer psychischen Gesundheitsschädigung zu vergleichen, erscheint zunächst deplatziert, um nicht sogar zu sagen verstörend. Die Gerichte berufen sich jedoch darauf, dass nach dem heutigen Kenntnisstand der Medizin bei der weitaus überwiegenden Zahl der Patienten keine anatomischen Auffälligkeiten festzustellen sind. Damit verbleibt als Untersuchungs- und Therapiefeld die psychische respektive die mentale Gesundheit.
- Liegt nach einem Unfall die ärztliche Bestätigung vor, dass es zu einem Tinnitus gekommen ist, so folgt die bereits erwähnte Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs. Es ist nicht ein Arzt, der diese Prüfung vornimmt, sondern die obligatorische Unfallversicherung oder im Streitfall die Gerichte.
In einem ersten Schritt wird eingeschätzt, ob der Ablauf des Unfalls als leichtes, mittleres oder schweres Geschehen einzustufen ist. Das Umfallen des Riffelblechs und der dabei entstandene Lärm stellten nach Auffassung des Versicherers ein mittelschweres Unfallereignis dar an der Grenze zu den leichteren Fällen. Das Gericht prüfte die Schwere des Unfallereignisses ebenfalls und hielt fest, dass wohl von einem bloss leichten Unfall auszugehen wäre.
Wieso ist dies von Bedeutung?
- Wenn es sich um ein leichtes Unfallereignis handelt, verneinen die Gerichte (und daher auch die Versicherer) den Zusammenhang zwischen einem Unfall und festgestellten nicht organischen Symptomen. In leichten Fällen besteht ohne organisch messbares Symptom kein Anspruch auf Versicherungsleistungen.
- Handelt es sich um ein mittleres Unfallereignis, so prüfen die Versicherer und die Gerichte das Vorliegen der nachfolgend aufgeführten sechs Kriterien. Ist ein Kriterium in besonders ausgeprägter Weise erfüllt oder sind vier dieser Kriterien erfüllt, so gilt der Zusammenhang zwischen dem Unfall und den medizinisch bestätigten, wenn auch nicht organischen Folgen (Wie in unserem Fall der Tinnitus) als bestehend.
- besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit
- schere (somatische) Verletzung
- ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung somatischer Beschwerden
- ärztliche Fehlbehandlung
- schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen
- dauernde Arbeitsunfähigkeit aus einem physischen Grund
- Im Fall des umgekippten Riffelblechs gelangte das Gericht zum Schluss, dass keiner der aufgelisteten Umstände vorlag. Folglich wies es die Beschwerde des Tinnitus-Patienten ab.
Für seine Heilungskosten hatte der Beschwerdeführer demzufolge an seine Krankenkasse zu gelangen und für den vorübergehenden Verdienstausfall an die Krankentaggeldversicherung.
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